Remote Interpreting - eine Branche im Wandel

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Remote Interpreting - eine Branche im Wandel

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Dolmetschen und Dolmetscher

am 03/06/2020

Brücken bauen, Nähe schaffen, Distanzen reduzieren – so oder so ähnlich würden wohl viele Dolmetscher die Quintessenz ihrer Tätigkeit zusammenfassen. Doch was, wenn Brücken zur Gefahr werden, Nähe tötet und nur Distanz schützt? Was vor einigen Monaten noch wie eine düstere Dystopie geklungen hätte, ist durch SARS-COV-2 (COVID-19) mittlerweile zur bitteren Realität geworden, mit der – um ihre Grundvoraussetzungen gebracht – nicht zuletzt auch die Welt der Dolmetscher zu kämpfen hat. Grundlegend kommunikative Tätigkeiten wie das Dolmetschen leben vom zwischenmenschlichen Kontakt. Während man Übersetzungen zu einem gewissen Grad als vom Menschen getrennt betrachten kann, ist Dolmetschen ohne Kontakt zu anderen (in welcher Form er auch immer stattfindet) undenkbar. Beinahe ebenso bedeutsam wie die verwendeten Worte sind beim Dolmetschen nämlich visuelle Hinweise wie Blickwechsel, Gestik & Mimik der Sprecher sowie der Austausch mit bzw. die Unterstützung von Kollegen. Gerade freiberuflich tätige Dolmetscher schätzen darüber hinaus den direkten Kundenkontakt, um langfristig tragfähige Beziehungen aufzubauen. All das ist derzeit unmöglich, ja scheint sogar fast einer lang vergessenen Zeit anzugehören. Während in anderen Bereichen der Betrieb langsam (zum Glück!) wieder hochgefahren wird, wird daran in der Dolmetschwelt wohl noch länger nicht zu denken sein. Man rufe sich nur die europaweiten Reisebeschränkungen, Quarantäneregelungen und die Dimensionen einer Dolmetschkabine (8m2 zu dritt) in Erinnerung, die normalen Konferenzbetrieb, ganz abgesehen von den gesundheitlichen Risiken, verunmöglichen.

Betrieb auf Sparflamme

Der nun fast drei Monate andauernde Ausnahmezustand macht sich bei den Sprachdienstleistern, insbesondere aber bei den Dolmetschern, immer mehr bemerkbar. Selbstständige, die von der Krise besonders stark betroffen sind, machen den Großteil aller Dolmetscher aus. Im Zuge einer jüngst durchgeführten Studie des österreichischen Berufsverbands für Übersetzer & Dolmetscher gaben 63 % an, von der Krise stark oder sehr stark betroffen zu sein. Als Gründe dafür wurden hauptsächlich Rückgänge an Aufträgen bzw. Auftragsstornierungen genannt. Auf die Frage, wie lange sich die Befragten bei gleichbleibender Auftragslage ohne Hilfsleistungen über Wasser halten könnten, wählte ein volles Drittel die Option „zwei bis vier Monate“. Nachdem der meistens ohnehin gerade für Dolmetscher auftragsschwache Sommer ins Haus steht, dürfte dieses Limit mit relativer Wahrscheinlichkeit ausgereizt werden. All dies hat zur Folge, dass 35 % aller Befragten ihrer Zukunft „eher pessimistisch“ oder gar „pessimistisch“ entgegenblicken (Universitas Austria 2020).

Neue Horizonte - Remote Dolmetschen

Doch obwohl an mehrsprachige, internationale Konferenzen mit Beteiligung von Dolmetschern in den letzten Monaten nicht zu denken war, hat die Dolmetschcommunity alles andere als Däumchen gedreht. Vielmehr wurde mit Hochdruck an Lösungen gearbeitet, die bereits vor der COVID-19-Pandemie immer mehr ins Zentrum des Diskurses gerückt sind, deren Entwicklung aber durch die aktuellen Umstände deutlich beschleunigt wurde: Wir erleben die Sternstunde des sogenannten „Remote Interpreting“. Remote Interpreting ist in den verschiedensten Konfigurationen denkbar. Allen ist jedoch gemein, dass sich beim Remote Interpreting zumindest ein Teil der Konferenzteilnehmer nicht am Ort des Geschehens befindet, sondern per Video zugeschaltet wird, wofür es verschiedenste Softwareanbieter gibt. Können oder wollen manche oder gar alle Teilnehmer nicht anreisen, können sie auf diese Art und Weise trotzdem an Sitzungen teilnehmen und Dolmetschungen empfangen. Auch die Dolmetscher selbst müssen sich nicht notwendigerweise in ihren Kabinen am Veranstaltungsort befinden, sondern können ihrer Arbeit ebenso von ihrem eigenen Schreibtisch aus nachgehen. Was auf den ersten Blick nach einer optimalen Lösung aussieht, birgt jedoch einige, teils substanzielle, Stolpersteine (vgl. CBTI 2020):

  • Technik: Das Remote Interpreting erfordert neben der notwendigen Soft- und Hardware eine stabile, leistungsstarke Internetverbindung, über die auch über Stunden hinweg große Datenvolumina übertragen werden können. Liegen Bild und Ton nicht in ausreichender Qualität vor oder fallen sogar streckenweise aus, können die Dolmetscher ihrer Arbeit nicht nachgehen. Jeder, der in den letzten Wochen und Monaten mit Familie und Freunden über Skype, Zoom und Co. in Verbindung stand, weiß, dass derartige Ausfälle durchaus vorkommen können.
  • Arbeitsbedingungen: Dolmetscher sind Herdentiere und es als solche gewohnt, in Zweier- oder auch Dreierteams zusammenzuarbeiten. Nun ist es durchaus auch beim Remote Interpreting denkbar, dass mehrere Dolmetscher virtuell an derselben Konferenz teilnehmen und sich abwechseln können, doch das Notieren von Zahlen und Fachtermini für die Kollegen bzw. kurze inhaltliche Besprechungen in Sprechpausen entfallen beim Remote Interpreting. Ebenso berichten viele Dolmetscher, die sich in den letzten Monaten näher mit dem Remote Interpreting befasst haben, dass es u.a. aufgrund verminderter Bild- und Tonqualität wesentlich anstrengender als das reguläre Dolmetschen sei und deshalb länger als zwei Stunden (selbst in Zweierteams) nicht zu bewerkstelligen. Ganze Konferenztage, wie sie etwa bei den Institutionen der EU gang und gäbe sind, sind somit unmöglich.
  • Haftung: Während bei gewöhnlichen Konferenzen normalerweise klar ist, wer für welche Fehler verantwortlich ist sowie für welche Mängel haftet, ist das beim Remote Interpreting keineswegs so. Wer wird etwa zur Verantwortung gezogen, wenn Bild & Ton ausfallen und der Dolmetscher deshalb nicht arbeiten kann?
  • Datenschutz: Gerade bei vertraulichen Gesprächen oder gar Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stellt sich die Frage nach Datenschutz und Geheimhaltung. Um jeden Preis muss vermieden werden, dass wichtige, remote gedolmetschte Sitzungen, wie etwa im Rat der EU, gehackt werden können.
  • Preisgestaltung: Trotz erschwerter Bedingungen wird von Auftraggebern oft versucht, mit Begründungen wie der entfallenden Anreise beim Remote Interpreting die Honorare der Dolmetscher zu drücken. Nicht verschwiegen werden darf jedoch, dass das Remote Interpreting bei der entsprechenden technischen Ausstattung durchaus auch einige Vorteile mit sich bringt. Weite Anreisen sind dabei nicht nötig, was sich sowohl auf das Budget als auch auf die Umwelt positiv auswirkt. Ebenso können Dolmetscher aus entlegeneren Regionen mit außergewöhnlichen Sprachen so auf Märkte vordringen, die ihnen sonst verschlossen blieben.

COVID-19 … und dann?

Klar ist, dass uns Corona noch länger begleiten wird: An einen einfachen Übergang zur Tagesordnung wird so bald nicht zu denken sein. Klar ist deshalb auch, dass sich die Dolmetschwelt dem Remote Interpreting in Zeiten von COVID-19 (und aller Wahrscheinlichkeit nach auch darüber hinaus) nicht verschließen wird können. Versuchen wir vor diesem Hintergrund doch, die Krise als Chance zu betrachten. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, sollten wir uns nach Möglichkeit aktiv in die laufenden Entwicklungen einbringen, damit eine Remote-Interpreting-Umwelt entsteht, die den Anforderungen professioneller Dolmetscher genügt.

Quellen: Auswirkungen von COVID-19 auf ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen. Universitas Austria, 2020. Interprétation Simultanée à Distance. CBTI – Commission Sectorielle des Interprètes, 2020.

Weiterführende Lektüre: AIIC Guidelines for Distance Interpreting(2019) Interpreting in Times of COVID-19 (2020)